Millimetergenaue Daten über einen ruhelosen Ozeanboden
Schiffsexpedition verspricht neue Informationen zur Erdbebengefahr vor Chile
Der Ozeanboden stellt die äußere feste Hülle für mehr als 70 Prozent unseres Planeten dar. Er ist keineswegs starr, sondern wird im Zuge der globalen Plattentektonik kontinuierlich bewegt und deformiert, wobei sich Spannungen im Meeresboden aufbauen können. Diese tektonischen Spannungen wachsen über lange Zeiträume und können sich dann plötzlich und meist unerwartet in einem Erdbeben entladen – was im marinen Bereich zusätzlich die Gefahr von Tsunamis birgt. In unserer global eng vernetzten Gesellschaft und Wirtschaft haben solche Ereignisse auch Auswirkungen weit über die unmittelbar betroffene Region hinaus. So war nach dem Tsunami 2011 in Japan auch in Deutschland eine Verknappung von Ressourcen und Wirtschaftsgütern zu spüren. Hinzu kam die politische Weichenstellung zum Ausstieg aus der Atomkraft in Folge der Katastrophe von Fukushima.
Eine stark gefährdete Region ist die Küste vor Chile, wo eine ozeanische Erdplatte unter den südamerikanischen Kontinent abtaucht und sich dabei tektonische Spannungen aufbauen. Um diese zu erfassen und die Gefahr von Starkbeben besser abschätzen zu können, wurden im Jahr 2015 auf der Expedition SO244 mit dem deutschen Forschungsschiff SONNE drei marine geodätische Netzwerke vor Nord-Chile installiert, um die Deformation des Meeresbodens aufzuzeichnen. Die Geräte wurden im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts Geodetic Earthquake Observatory on the Seafloor (GeoSEA) entwickelt. Gut sechs Jahre nach dem Ausbringen werden sie nun im Rahmen der SONNE-Expedition SO288 wieder geborgen.
„Der Meeresboden birgt Informationen über Spannung und elastische Verformung, sowie zur Entstehung und zum Verlauf von Erdbeben und daraus resultierenden Tsunamis. Diese Informationen können wir durch das neue Feld der Meeresboden-Geodäsie über akustische Distanzmessungen, Neigungs- und Druckänderungsmessungen fast millimeter-genau erfassen“, erklärt Professorin Dr. Heidrun Kopp. Die Geophysikerin am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel war wissenschaftliche Fahrtleiterin der Expedition SO244 und leitet auch die aktuelle Fahrt zur Bergung der Geräte.
Das 2015 ausgebrachte Mess-System besteht aus 23 autonomen, untereinander kommunizierenden Meeresboden-Transpondern, die auf etwa vier Meter hohen Stahltripoden montiert sind. Sie wurden an drei verschiedenen Lokationen ausgebacht, um Änderungen von Distanzen, Neigung, Druck und Wassertemperatur zu erfassen. Ein Wellengleiter nahm die Daten aus der Tiefe auf und gab sie an eine Satellitenverbindung weiter, so dass die Informationen direkt an Land verfügbar wurden. „Aus den gewonnenen Daten können wir erkennen, welche Prozesse im Vorfeld eines Erdbebens im Meeresboden stattfinden. Diese Information ist für eine verbesserte Frühwarnung vor Erdbeben und Tsunamis essentiell“, sagt Heidrun Kopp.
Für die Bergung ist auf der aktuellen Reise auch der Kieler Tauchroboter (Remotely Operated Vehicle, ROV) ROV KIEL 6000 mit an Bord. Seine Kameras sollen zudem detaillierte Bilder der sechs Jahre lang überwachten Gebiete liefern. Hinzu kommen hochauflösende seismische Verfahren, etwa von Ozeanbodenseismometern.
„Die neuen Informationen tragen zu einem besseren Verständnis der geologischen Risiken in dieser Region bei, für die schon lange ein neues Beben erwartet wird. Neben der humanitären Komponente ist dabei auch zu bedenken, dass in Nordchile zwei der weltweit wichtigsten Häfen für den Kupfer-Export liegen, von dem die globale Produktion vieler Elektroartikel abhängt“, fasst Heidrun Kopp zusammen. „Zudem lernen wir, wie sich der Meeresboden in besonders gefährdeten Gebieten detailliert überwachen lässt und können unsere Methoden weiterentwickeln. Dazu werden wir in einem nächsten Schritt zusammen mit unseren chilenischen Partnern Drucksensoren am Meeresboden installieren, die Änderungen in der Wassertiefe hochpräzise ermitteln können. Dieser neue Ansatz in der Erdbebenforschung ermöglicht den tektonischen Spannungsaufbau vor einem Beben zu quantifizieren. Unsere Forschungen können dann auf andere Erdbebengebiete wie zum Beispiel das Mittelmeer und Südeuropa übertragen werden.“
Zweites Thema der Fahrt sind biogeochemische Prozesse im Freiwasser: Die untersuchte Region ist vom Humboldtstrom beeinflusst, einer kalten oberflächennahmen Strömung, die nährstoffreiches Tiefenwasser an die Oberfläche bringt und die Produktivität des Ozeans steigert. Experimentelle Arbeiten an Bord sollen zeigen, wie organisches Material verarbeitet wird und wie Temperatur, Druck und die Verfügbarkeit von Sauerstoff diese Prozesse beeinflussen.
Information zur Expedition:
SONNE SO288 – Ganzheitliches Monitoring des Meeresbodens vor Chile
15. Januar – 15. Februar 2022
Guayaquil, Ecuador – Valparaiso, Chile
Wochenberichte: https://www.ldf.uni-hamburg.de/sonne/wochenberichte.html