Munitionsaltlasten in der Ostsee: Pilotbergung beginnt
Politik, Wirtschaft und Wissenschaft stellen Räumungsvorhaben vor
– Gemeinsame Pressemitteilung des Ministeriums für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur und dem GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel –
Zur anstehenden Pilotbergung von Altmunition in der Lübecker Bucht fand heute am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel ein großes Informationstreffen statt. Unter der Schirmherrschaft des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur (MEKUN) kamen Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Militär, Behörden, Industrie sowie von Nichtregierungsorganisationen zusammen, um sich über die nächsten Schritte im Rahmen des Sofortprogramms des Bundesumweltministeriums (BMUV) auszutauschen.
„Zehn Jahre hat es gedauert, bis wir diesen wichtigen Schritt bei der Munitionsbergung machen konnten. Viel zu lang wurden unsere Meere mit dem Problem der rund 1,6 Millionen Tonnen Munitionsaltlasten sich selbst überlassen“, sagte Tobias Goldschmidt, Minister für Energiewende, Klimaschutz, Umwelt und Natur des Landes Schleswig-Holstein. „Durch das vom Bund mit 100 Millionen Euro ausgestattete Sofortprogramm werden wir viele Erkenntnisse gewinnen, wie wir möglichst effizient und schnell die verschiedenen Arten an Munition aus unseren Meeren bergen können. Das hat noch kein Land der Welt versucht oder geschafft.“
„Dieses Treffen heute ist etwas ganz Besonderes, weil es zeigt, wie verschiedene Interessengruppen gemeinschaftlich ein Riesenproblem angehen und lösen können. Allein diese interdisziplinäre und ressortübergreifende Zusammenarbeit macht es möglich, der Jahrhundert-Herausforderung Munition im Meer zu begegnen“, sagte GEOMAR-Direktorin Professorin Dr. Katja Matthes. „Seit vielen Jahren forscht Professor Jens Greinert mit seiner Arbeitsgruppe Tiefseemonitoring zu den gefährlichen Altlasten auf dem Meeresboden vor unseren Küsten. Ich bin sehr stolz darauf, dass das GEOMAR durch seine Forschungsergebnisse die Grundlage für die jetzt startende Räumung geschaffen hat. Diese werden wir wissenschaftlich eng begleiten, denn es ist von entscheidender Bedeutung, auch die möglichen Umweltauswirkungen sorgfältig zu überwachen.“
Für das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) erläuterte Stefan Mehlhase in seinem Vortrag, dass man mit den ab diesem Sommer stattfindenden Pilotbergungen in der Lübecker Bucht in die erste praktische Phase des von der Bundesregierung initiierten und finanzierten Sofortprogramms Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee eintrete. „Die Erkenntnisse aus der Pilotierung werden der Entwicklung einer umweltgerechten, sicheren und effizienten Prozesskette zur Bergung und späteren Entsorgung von Munitionsaltlasten auf dem Meer dienen. Im Hinblick auf die Notwendigkeit eines begleitenden Umweltmonitorings sind wir froh, das GEOMAR mit seiner einzigartigen Expertise auf diesem Gebiet mit an Bord zu haben.“
„,Munitionsräumung – Jetzt geht’s los!‘ So haben wir diesen Tag genannt. Und tatsächlich markiert dieser Tag einen Wendepunkt: von der Forschung zur praktischen Umsetzung“, sagte Dr. Jens Greinert, Professor für Meeresgeologie am GEOMAR und Leiter der Arbeitsgruppe Tiefseemonitoring. Er schilderte die spezifischen Herausforderungen der bevorstehenden Bergung in der Lübecker Bucht: „Hier liegen ganz unterschiedliche Munitionstypen – von der einzelnen Patrone über Munitionskisten bis hin zu 500-Kilo-Bomben – in komplexen Schichtungen. An diesem Standort werden wir extrem wertvolle Erkenntnisse über die technischen Anforderungen und möglichen Gefahren bei der Bergung von Altmunition gewinnen.“
Die drei beauftragten Räumfirmen SeaTerra sowie die Kooperation Eggers Kampfmittelbergung und Hansataucher erläuterten das konkrete Vorgehen für die Pilotbergung. Nach ersten Erkundungsfahrten wird ab Mitte August zwei Monate lang in drei Gebieten vor Haffkrug und Pelzerhaken Munition hauptsächlich maschinell geborgen. Dabei kommen unter anderem Deckskräne mit verschiedenen Greifern zur Bergung von Munitionskisten, ein sogenannter Crawler, der mit einem Roboterarm kleine Artilleriemunition unter Wasser in Körbe legt, sowie ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge (Remotely Operated Vehicles, ROVs) zum Einsatz. Ein erfahrenes Taucherteam steht für die Unterstützung im Einzelfall bereit.
Bei der Pilotbergung sollen die ersten rund 50 Tonnen Munition aus dem Meer geholt werden. Etwa zwei Drittel dieser Menge werden über Land zur bundeseigenen Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten (Geka) in Munster transportiert. Die Geka ist das einzige Unternehmen in Deutschland, das Munition behandeln und entsorgen darf, und die Kapazitäten sind begrenzt. Auch stellt der Transport auf dem Landweg keine langfristige Lösung dar. Deshalb soll im nächsten Schritt auf Basis der gesammelten Daten eine autonome Bergungsplattform entwickelt werden, die die Altlasten auf See behandelt und verbrennt. Bis diese einsatzbereit ist, wird geborgene Munition in Containern in einem so genannten Nasslager am Meeresboden sicher aufbewahrt.
„Wir wissen noch nicht alles, aber wir wissen genug, um mit der Bergung anzufangen“, sagte Minister Goldschmidt. „Wir brauchen die Wissenschaft, den Technologietransfer und die Innovationsfreude der Unternehmen, um die noch offenen Fragen zu beantworten.“ Langfristig werde diese gesamtstaatliche, generationenübergreifende Aufgabe eine Menge Ressourcen beanspruchen. Goldschmidt betonte, dass die Pilotbergung nur ein erster Schritt sei: „Die Anschlussfinanzierung dieser Aufgabe, mit der sich noch unsere Enkel beschäftigen werden, ist nun die nächste Aufgabe für die Politik.“ Dabei habe jedes Bundesland seinen Beitrag zu leisten, schließlich sei Munition aus dem ganzen Bundesgebiet in der Ostsee versenkt worden.
Hintergrund
Munition im Meer
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden im Zuge der Entmilitarisierung Deutschlands zehntausende Tonnen konventioneller Munition direkt aus den Arsenalen und Munitionsfabriken in Nord- und Ostsee verklappt. In den nachfolgenden Jahrzehnten wurde diesem Problem wenig Beachtung geschenkt. Doch nun drängt die Zeit: Die Metallhüllen rosten, und Sprengstoff liegt teilweise bereits offen auf dem Meeresboden. Krebserregendes und erbgutschädigendes Trinitrotoluol (TNT) sowie dessen Abbauprodukte wurden in Zusammenarbeit mit dem Institut für Toxikologie des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) und dem Thünen-Institut im Wasser, in Muscheln und Fischen nachgewiesen.
Forschung zu Altmunition am GEOMAR
Das GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel ist führend in der Erforschung von Munitionsaltlasten in der Nord- und Ostsee. Seit 2016 detektieren und kartieren Forschende Altmunition auf dem Meeresboden. Besondere Aufmerksamkeit gilt den vier bekannten Munitionsversenkungsgebieten in der deutschen Ostsee: Neben den zwei Gebieten in der Lübecker Bucht sind dies das Seegebiet Kolberger Heide bei Kiel und eines bei Falshöft außerhalb der Flensburger Förde.
Professor Dr. Jens Greinert leitet den Forschungsverbund CONMAR (CONcepts for conventional MArine Munition Remediation in the German North and Baltic Sea) im Rahmen der Mission „Schutz und nachhaltige Nutzung mariner Räume“ (sustainMare) der Deutschen Allianz für Meeresforschung (DAM). Im Rahmen von CONMAR werden die Räumungsarbeiten wissenschaftlich begleitet und die Umweltauswirkungen überwacht. Auf Basis der Erkenntnisse können dann im Dialog mit Politik und Wirtschaft Konzepte für eine großflächige Munitionsbergung entwickelt werden.
„Sofortprogramm Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee“ des BMUV
Für das „Sofortprogramm Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee“ des Bundesumweltministeriums wurden 100 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt. Damit sollen die Pilotbergung und die Entwicklung einer autonomen Bergungsplattform finanziert werden.
Die Pilotbergung ist ein erster wichtiger Schritt zur systematischen Räumung von Munitionsaltlasten im Meer, kann aber noch keine großen Mengen beseitigen. Ziel ist es, bereits vorhandene Technik zu erproben und so weiterzuentwickeln, dass sie im Rahmen eines Gesamtkonzepts eine effiziente Verfahrenskette zur systematischen und umweltfreundlichen Entsorgung auf See ergeben.