Arktisches Meereis: Blick zurück in die Zukunft
Neue Studie rekonstruiert die Entwicklung während der vergangenen 10.000 Jahre
Die Veränderungen, die die globale Erwärmung mit sich bringt, sind in kaum einer Region so deutlich wie in der Arktis. Die Fläche, die das Meereis im Sommer bedeckt, hat in den vergangenen Jahrzehnten stark abgenommen. Mitte September 2020 erreichte sie die zweitkleinste Ausdehnung seit Beginn der Satellitenbeobachtungen in den 1970er Jahren.
Ein internationales Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, darunter auch Arktis-Spezialisten des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel, hat jetzt untersucht, wie sich die Meereisbedeckung direkt nach der jüngsten Eiszeit entwickelte. Dabei entdeckten sie deutliche Parallelen zwischen der Zeit zwischen 10.000 und 5.000 Jahren vor heute und den aktuellen Trends. Die Studie ist gestern in der internationalen Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Science (PNAS) erschienen.
Das Team konnte zeigen, dass zwischen 10.000 und 5.000 Jahren vor heute die Arktis zwischen Nordpol und dem heutigen Sibirien im Sommer immer wieder fast eisfrei gewesen sein muss. Zwischen Grönland und dem Nordpol existierte dagegen eine stabile Meereisbedeckung.
Der Grund für die geringe Eisbedeckung damals ist in einer besonderen Klimakonstellation zu finden. „Direkt nach dem Ende der letzten Eiszeit war im hohen Norden die Sonneneinstrahlung 10 Prozent stärker als heute und ging danach langsam zurück, genau wie die Temperaturen in der Arktis. Das hat dann dazu geführt, dass seit etwa 5.000 Jahren der Arktische Ozean ganzjährig zugefroren war – bis der Mensch aktiv ins Klimageschehen eingriff“, sagt Dr. Robert Spielhagen vom GEOMAR, Co-Autor der Studie.
Für die Untersuchung nutzte die internationale Gruppe mehrere Kerne aus dem Meeresboden, die während einer Expedition mit dem Forschungseisbrecher POLARSTERN im Jahr 2014 entlang des untermeerischen Lomonossow-Rückens quer durch die Arktis genommen wurden.
„Der Meeresboden ist wie ein riesiges Umweltarchiv. Er enthält zum Beispiel die fossilen Schalen von Kleinstorganismen. Die Verteilung bestimmter Arten in verschieden alten Schichten und die Zusammensetzung der einzelnen Schalen lassen sehr präzise Umweltrekonstruktionen zu. Auch, ob das Meer zu einer bestimmten Zeit regelmäßig eisbedeckt war oder nicht, können wir daraus ableiten“, erklärt Robert Spielhagen, der auch an der Expedition 2014 teilgenommen hat.
Für den Paläoozeanographen ist die neue Studie wie ein Blick zurück in die Zukunft. „Dass in der besonders warmen Phase nach der letzten Eiszeit ausgerechnet die östliche Arktis oft eisfrei war, bestätigt den aktuellen Trend. Auch jetzt, infolge der vom Menschen verursachten Erwärmung, ist der Eisverlust dort am größten. Wenn es noch wärmer wird, erleben wir in wenigen Jahrzehnten den ersten komplett eisfreien Sommer in der Arktis“, sagt er.
Da die Schelfmeere vor Sibirien die wichtigste Eisfabrik der Arktis sind, wirkt sich dort die Erwärmung besonders kräftig auf die winterliche Neueisbildung aus. Das GEOMAR erforscht hier seit über 25 Jahren gemeinsam mit deutschen und russischen Partnerinstituten die Auswirkungen des Klimawandels.
Originalarbeit:
de Vernal, A., C. Hillaire-Marcel, C. Le Duc, P. Roberge, C. Brice, J. Matthiessen, R. F. Spielhagen, R. Stein (2020): Natural variability of the Arctic Ocean sea ice during the present interglacial. Proceedings of the National Academy of Science (PNAS), https://doi.org/10.1073/pnas.2008996117