Sauerstoffmessungen im Blutkreislauf der Tiefsee
Neuartige Sensoren verfolgen die Verteilung des lebenswichtigen Gases
Die Labradorsee zwischen Kanada und Grönland wird oft als „Lunge der Tiefsee“ bezeichnet, weil sie einer der wenigen Orte weltweit ist, an dem Sauerstoff aus der Atmosphäre in die tiefsten Schichten des Ozeaninneren gelangen kann. Das Leben in der Tiefsee hängt eng von dieser „Tiefenatmung“ ab. Der Prozess wird durch die winterliche Abkühlung an der Meeresoberfläche angetrieben, die das sauerstoffreiche, oberflächennahe Wasser dichter und schwerer macht, so dass es im Winter in Tiefen von etwa zwei Kilometern absinkt.
Diese tiefe Durchflutung der zentralen Labradorsee mit Sauerstoff ist nur ein erster Schritt im Lebenserhaltungssystem der Tiefsee. Tiefe, grenzüberschreitende Strömungen verteilen den Sauerstoff dann weiter im Atlantik und darüber hinaus. Auf diese Weise kann der Sauerstoff, der in der Labradorsee „eingeatmet“ wird, das Leben in der Tiefsee in der Antarktis und sogar im Pazifik und im Indischen Ozean unterstützen.
Forschende der Dalhousie University in Halifax (Kanada) und des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel (Deutschland) haben nun zum ersten Mal den Sauerstofffluss ins Innere der Tiefsee direkt gemessen, der von diesen Tiefenströmungen angetrieben wird. Dies ist das ozeanographische Äquivalent zur Messung des Sauerstofftransports in unseren Körper durch unsere Hauptschlagader, die Aorta.
Sie entschlüsselten die Verbindung zwischen der Aufnahme von Sauerstoff aus der Atmosphäre und dem Weitertransport ins Ozean-Innere mit Hilfe neuartiger Sensoren. Diese waren für knapp zwei Jahre in einem Stromsystem vor der Küste Labradors an Stahlseilen befestigt, die am Meeresboden verankert und durch Glaskugeln aufrecht im Wasser gehalten werden. Sie wurden in dem Tiefenbereich eingesetzt, in denen sich das Wasser aus der tiefen Durchmischung im Zentrum der Labradorsee, der „Lunge“, nach Erwartung der Forschenden ausbreiten sollte. Die neuen Erkenntnisse sind in der Fachzeitschrift Biogeosciences beschrieben.
„Wir wollten wissen, wie viel von dem Sauerstoff, der jeden Winter eingeatmet wird, tatsächlich in die tiefen, schnell fließenden Strömungen gelangt, die ihn rund um den Globus transportieren“, erklärt Dr. Jannes Koelling, Hauptautor der Studie von der Dalhousie University. „Der neu eingeatmete Sauerstoff war deutlich als ein Puls hoher Sauerstoffkonzentration erkennbar, der unsere Sensoren zwischen März und August passierte.“
Die neuen Messungen ergaben, dass etwa die Hälfte des Sauerstoffs, der im Winter im Inneren der Labradorsee aus der Atmosphäre aufgenommen wird, in den folgenden fünf Monaten in das Stromsystem eingespeist wird. Während ein Teil des verbleibenden Sauerstoffs möglicherweise vor Ort von Fischen und anderen Organismen verbraucht wurde, nahm der größere Teil höchstwahrscheinlich eine alternative Route aus der tiefen Mischungsregion heraus.
„Die Zirkulation der Labradorsee ist komplex, und wir haben uns bisher nur auf den direktesten Exportweg konzentriert. Ein Teil des sauerstoffreichen Wassers könnte nach Osten statt nach Südwesten transportiert werden und in die Grenzströmung vor Grönland eintreten, bevor es über einen längeren Zeitraum nach Süden zurückkehrt,“ vermutet Dr. Koelling. Diese anderen Verbreitungswege werden in zukünftigen Studien mit Hilfe zusätzlicher Sauerstoff-Sensoren an weiteren Verankerungen genauer erforscht.
„Diese Studie ist ein Beispiel dafür, wie die Überwachung mit Hilfe modernster Ozeantechnologie uns helfen kann, Wissenslücken in dieser wichtigen Region zu schließen“, sagt Dr. Dariia Atamanchuk, die das Forschungsprogramm zum Sauerstoff in Dalhousie leitet.
"Die Installation von Sauerstoffsensoren an unseren Verankerungen hat es ermöglicht, die klassischen ozeanphysikalischen Messungen, die wir in der Region durchführen, in einen größeren Kontext zu stellen und diese spannenden Ergebnisse zu erzielen", sagt Dr. Johannes Karstensen, physikalischer Ozeanograph am GEOMAR. Das Zentrum unterhält das Verankerungsfeld, in dem die neuen Daten gewonnen wurden, seit 1997.
Die Studie und die neuen Möglichkeiten zur Überwachung des Sauerstofftransports kommen zur rechten Zeit: Projektionen von Klimamodellen deuten darauf hin, dass die zunehmende Zufuhr von Süßwasser aufgrund schmelzender Gletscher und anderer klimatischer Veränderungen in der Arktis die Tiefe der winterlichen Durchmischung in der Labradorsee in den kommenden Jahrzehnten verringern könnte. Dadurch würden die „Atmung“ der Labradorsee flacher werden und die lebenswichtige Sauerstoffversorgung der Tiefsee abnehmen.
Publikation:
Koelling, J., Atamanchuk, D., Karstensen, J., Handmann, P., and Wallace, D. W. R.: Oxygen export to the deep ocean following Labrador Sea Water formation, Biogeosciences (2022) doi.org/10.5194/bg-19-437-2022
Projekt-Förderung:
Die Arbeiten wurden von den von der Europäischen Union geförderten Projekten EuroSea und Blue-Action sowie dem Ocean Frontier Institute unterstützt, einer transatlantischen Forschungsorganisation, die Forschende mehrerer bedeutender Einrichtungen in Kanada, Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika mit einem gemeinsamen Schwerpunkt auf dem klimasensiblen Nordwestatlantik zusammenbringt.