„Riesensprung in der Erforschung der Ozeanversauerung“
13.07.2010/Ny-Ålesund/Kiel. Nach mehr als 30 Probentagen endet in Ny-Ålesund auf Spitzbergen eines der größten europäischen Experimente zu den Folgen der Ozeanversauerung. 35 Forscher aus zwölf Nationen untersuchten unter der Leitung des Leibniz-Instituts für Meereswissenschaften (IFM-GEOMAR) sechs Wochen lang, welche Auswirkungen steigende Kohlendioxidkonzentrationen auf die Lebensgemeinschaft im Meer haben. Prof. Dr. Ulf Riebesell, wissenschaftlicher Leiter der Studie, spricht von „einem „Riesensprung in der Erforschung der Ozeanversauerung“. Die neun für das Experiment genutzten Mesokosmen – die größten Reagenzgläser der Welt – werden am 22. Juli 2010 vom Greenpeace-Schiff ESPERANZA nach Kiel zurück gebracht.
Die von Menschen verursachten Kohlendioxidemissionen führen nicht nur zu einer Erwärmung des globalen Klimas. Sie sorgen auch dafür, dass der pH-Wert des Meereswassers sinkt und die Ozeane versauern. „Dieses Phänomen, das wir als ‚Das andere CO2-Problem‘ bezeichnen, kann dazu führen, dass sich maritime Lebensgemeinschaften stark verändern. Kalkbildende Organismen wie Muscheln, Schnecken, Seeigel, aber auch das mikroskopisch kleine Plankton, das an der Basis des Nahrungsnetzes steht, reagieren empfindlich auf die Ozeanversauerung“, erklärt der Meeresbiologe Prof. Dr. Ulf Riebesell. Da kaltes Wasser mehr Kohlendioxid aufnehmen kann, kommt die Ozeanversauerung in den Polargebieten stärker und früher zum Tragen als anderswo. Forscher vermuten daher, dass die empfindlichen Ökosysteme der Polarregionen besonders stark gefährdet sind.
Um die Auswirkungen der Ozeanversauerung unter realen Bedingungen zu untersuchen, haben die Wissenschaftler neun 17 Meter hohe Mesokosmen im Kongsfjord vor Ny-Ålesund im Nordwesten Spitzbergens verankert. Diesen überdimensionalen Reagenzgläsern, von denen jedes eine Wassersäule von etwa 50 Kubikmetern einschließt, wurde Kohlenstoffdioxid in verschieden hoher Konzentration zugesetzt. „Wir haben Bedingungen simuliert, wie sie in 20, 40, 60 Jahren und weiter in der Zukunft zu erwarten sind, wenn die Emissionen im bisherigen Maß fortschreiten“, erklärt Riebesell. Während ihrer täglichen Messungen und Probennahmen beobachteten Biologen und Chemiker die Veränderungen des Meerwassers und der eingeschlossenen Lebensgemeinschaft. Die simulierte Ozeanversauerung führte zu unerwartet starken Änderungen der Entwicklung und Produktivität der Planktongemeinschaft mit erheblichen Auswirkungen auf die Freisetzung klimarelevanter Gase und die Umsatzraten wichtiger Elemente im Meerwasser.
Nach Abschluss der Arbeiten in Ny-Ålesund stehen für alle Teilnehmer umfangreiche Auswertungen im Labor an. „Das Experiment ist besser verlaufen, als wir erhofft hatten“, bilanziert Riebesell. „Stürme, wie wir sie in der Ostsee durchmachen mussten, gab es glücklicherweise nicht. Das Eis, das sich bei steigenden Temperaturen von den Gletschern löste und auf die Mesokosmen zutrieb, konnte unsere Eiswache rechtzeitig beiseite schieben. Und die neugierigen Robben und Belugas haben sich nur bis auf einige Meter genähert.“
Sechs Wochen lang fuhren die Forscher in Schlauchbooten regelmäßig von der Station in Ny-Ålesund mit Planktonnetzen, Wasserschöpfern und Sonden hinaus, um Messungen in den Mesokosmen durchzuführen und Proben für ihre Laborarbeiten zu nehmen. Täglich wurden den Mesokosmen über 300 Liter Wasser entnommen und in den Laboren aufbereitet und analysiert. Mit über 60 Messparametern und zehntausenden von Einzelanalysen wird dies der bislang umfangreichste experimentelle Datensatz zu den Folgen der Ozeanversauerung. „Wir erwarten einen Riesensprung in der Erforschung der Ozeanversauerung“, so Riebesell.
In diesen Tagen werden die Mesokosmen im Kongsfjord abgebaut. Die Forscher erhalten dabei wieder Unterstützung von der Umweltschutzorganisation Greenpeace, die ihr Schiff ESPERANZA für das Aussetzen und Einholen sowie den Transport der Mesokosmen und der wissenschaftlichen Geräte zur Verfügung stellt. Neben der Unterstützung des IFM-GEOMAR bei der Forschung zur Ozeanversauerung ist Greenpeace im Sommer 2010 in der Arktis unterwegs, um die Lebensgemeinschaften des Meeresbodens im Arktischen Ozean erstmals zu erfassen und die Arbeiten zur Gletscherschmelze auf Grönland von 2009 fortzusetzen. Am 22. Juli 2010 wird das Schiff in Kiel erwartet, am 24. und 25. Juli 2010, 10 bis 17 Uhr lädt die ESPERANZA an der Außenpier des IFM-GEOMAR an der Kiellinie zum „open ship“.
Hintergrundinformationen: Das EU FP7 Integrationsprojekt EPOCA (European Project on OCean Acidification) startete im Mai 2008. Sein Ziel ist es, Wissenslücken zur Ozeanversauerung und deren Konsequenzen zu schließen. Die Kooperation verbindet mehr als 100 Wissenschaftler von 27 Instituten aus neun Ländern. Die Forschung des auf vier Jahre angelegten Projektes wird von der Europäischen Kommission gefördert. Folgende Partner-Institute von EPOCA nahmen am Experiment auf Spitzbergen teil: Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI, Deutschland), Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS, Frankreich), Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IFM-GEOMAR, Deutschland), Natural Environment Research Council (NERC, Großbritannien), Netherlands Institute of Ecology (NIOO, Niederlande), Plymouth Marine Laboratory (PML, Großbritannien), Royal Netherlands Institute for Sea Research (NIOZ, Niederlande), Station Biologique de Roscoff (Frankreich), University of Bergen (UiB, Norwegen). Weitere Teilnehmer: Norsk Polarinstitutt (Norwegen), University of Aarhus (Dänemark), University of Oslo (Norwegen) Das Experiment wurde logistisch neben Greenpeace von der französisch-deutschen Forschungsstation AWIPEV und der Forschungseinrichtung Kings Bay sowie finanziell durch das EU Projekt MESOAQUA (Network of European marine mesocosm facilities; http://www.mesoaqua.eu) unterstützt.
Ansprechpartner:
Maike Nicolai (Kommunikation & Medien), Tel. 0431 600-2807, mnicolai@geomar.de