GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel
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Entdeckerinnen und Entdecker gibt es auch heute noch. Doch ihr Arbeitsalltag unterscheidet sich erheblich von dem ihrer Vorgänger im Segelschiffzeitalter. Statt an Deck zu stehen, sitzen sie im Inneren von Forschungsschiffen und beobachten eine Reihe von Monitoren.
So wie um die Jahreswende 2019/2020 das Team der Expedition MSM88/2 im zentralen Atlantik. Während ihr Schiff, die MARIA S. MERIAN, konstant mit 10 Knoten Geschwindigkeit Richtung Westen fährt, baut sich Linie für Linie ein horizontaler, unregelmäßiger Streifen auf den Bildschirmen auf. Er leuchtet in bunten Farben, von tiefblau über grün und gelb bis dunkelrot. Gespannt schaut die Geowissenschaftlerin Dr. Morgane Le Saout vom GEOMAR auf die Darstellung. Die Farben stellen verschiedene Höhen – oder in diesem Fall Tiefen dar. So entsteht Linie für Linie das Bild einer Landschaft 1.500 bis 6.600 Meter unter dem Schiffsrumpf. „Wir sind die ersten Menschen, die von diesen Bergen, Tälern, Ebenen und Schluchten wissen“, sagt die Geologin Dr. Anne-Cathrin Wölfl, ebenfalls vom GEOMAR, und zeigt auf einen der Monitore. Wölfl ist die Fahrtleiterin der Kartierungs-Expedition. Und auch wenn die Arbeit der modernen Entdeckerinnen und Entdecker planbarer, sicherer und bequemer als die ihrer frühneuzeitlichen Vorgänger ist – die freudige Erregung, wenn erstmals unbekannte Strukturen erfasst werden, ist noch immer zu spüren.
Schon vor mehr als 100 Jahren war die Kartierung der über die Oberflächen der Ozeane hinausragenden Landmassen auf der Erde weitgehend abgeschlossen. Die Satellitentechnologie des späten 20. Jahrhunderts verfeinerte diese Vermessung so weit, dass wir heute jedes Stückchen trockenen Landes zentimetergenau kennen. Doch das sind nicht einmal 30 Prozent der Erdoberfläche. Die restlichen 70 Prozent sind von Wasser bedeckt. Im Durchschnitt ist diese Wasserschicht knapp 4.000 Meter dick. Lange galt sie als unergründlich. Das ist kein Wunder. Menschen können höchstens einige Meter ins Meer hineinsehen. Die einzige Möglichkeit, seine Tiefe zu ermitteln, war ein Gewicht an einer langen Leine bis auf den Grund herabzulassen. Das funktioniert in flachen Küstengewässern gut. In den Ozeanbecken konnte eine einzelne Messung dagegen mehrere Stunden dauern – wenn die Seeleute überhaupt Leinen hatten, die lang genug waren und die Geduld ausreichte. Diese Situation änderte sich erst, als der Physiker Alexander Behm in Kiel eine zuverlässige Methode entwickelte, mithilfe von Schallechos die Wassertiefen zu ermitteln. Mit Echoloten waren innerhalb weniger Minuten viele Messungen möglich. Zum ersten größeren wissenschaftlichen Einsatz kam die Methode während der Expedition des deutschen Forschungsschiffs METEOR 1925-27 im Südatlantik. Mehr als 60.000 Tiefenmessungen ergaben die erste einigermaßen detailgetreue Karte eines Ozeanbeckens. Doch die Lücken blieben groß.
Moderne Weiterentwicklungen der Echolote bilden bis heute die einzige Möglichkeit, den Meeresboden direkt zu vermessen. Auch die MARIA S. MERIAN verfügt über fest installierte Schall-Sender und -Empfänger. Sie schicken nicht mehr nur ein Signal zum Meeresboden und warten auf dessen Echo, sondern fächerförmig gleichzeitig mehrere Hundert. Sie können so einen Streifen Meeresboden kartieren, der bei 4.000 Meter Wassertiefe bis zu 16 Kilometer breit ist. „Das hört sich viel an. Aber bei der gigantischen Fläche der Ozeane sind das nur winzige Ausschnitte“, sagt Anne-Cathrin Wölfl.
Tatsächlich sind bis heute weniger als 20 Prozent aller Meeresböden direkt vermessen worden. Woher kommen dann globale Karten mit Meeresbodendarstellungen, wie man sie zum Beispiel bei Google Earth sehen kann? „Auch bei der globalen Darstellung von Meeresböden nutzen wir mittlerweile Satelliten“, erklärt Prof. Dr. Colin Devey, ebenfalls Geologe am GEOMAR und Fahrtleiter der Vermessungs-Expedition MSM88/1 von November bis Dezember 2019. „Aber die Satellitenaltimetrie [siehe oben] ist nur ein indirektes Verfahren. Die Auflösung der Meeresbodenkarten, die wir so erhalten, liegt durchschnittlich zwischen fünf und acht Kilometer als kleinstem Pixel“. Schätzungen gehen von weit mehr als 10.000 Unterwasserbergen von bis zu zwei Kilometern Höhe aus, die bislang auf keiner Karte der Erdoberfläche erscheinen.
"Im Detail sind auch bei der Plattentektonik noch viele Fragen offen" (Prof. Dr. Colin Devey)
Um Prozesse am Meeresboden zu verstehen, reicht die Satellitenvermessung daher nicht aus. Warum es elementar wichtig ist, auch den von Wasser bedeckten Teil der Erdoberfläche zu kennen, zeigt das Beispiel der Plattentektonik. Der Meteorologe Alfred Wegener postulierte 1912 erstmals, dass die Anordnung der Kontinente nicht starr ist, sondern dass die Kontinente driften. Doch er konnte noch keine überzeugende Ursache für diesen Prozess benennen. Seine Idee setzte sich nicht durch. Erst mit der zunehmenden Vermessung vor allem der Atlantikböden ab dem Zweiten Weltkrieg erkannten Geologen, dass sich in der Mitte des Ozeans von Nord nach Süd nicht nur ein gewaltiges Gebirge auftürmt, sondern dass entlang des Gipfelgrats eine Bruchzone existiert. Aus ihr quillt heißes Material aus dem Erdinneren, bildet neuen Meeresboden und drückt die Erdplatten auseinander. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse setzte sich die Theorie der Plattentektonik in den 1960er Jahren endgültig durch – und damit ein fundamental neues Verständnis der Erde mit neuen Erkenntnissen über Naturgefahren wie Erdbeben und Vulkanismus. „Doch im Detail sind auch bei der Plattentektonik noch viele Fragen offen. Das liegt unter anderem daran, dass die Meeresbodenkarten nach wie vor so große Lücken aufweisen“, betont Professor Devey. „Außerdem sind genaue Karten vom Meeresboden auch in anderen Bereichen wichtig, zum Beispiel für ein nachhaltiges Fischereimanagement oder bei der Einrichtung von Marinen Schutzgebieten“, ergänzt er.
Das 1903 von Fürst Albert I. von Monaco ins Leben gerufene GEBCO-Projekt (General Bathymetric Chart of the Oceans) will deshalb jetzt, zusammen mit der Nippon-Foundation, der Vermessung der Ozeane einen entscheidenden Anstoß geben: Das gemeinsame Projekt Seabed 2030 hat zum Ziel, in zehn Jahren alle Meeresböden der Erde per Schall mit einer Auflösung von mindestens 100 Metern kartiert zu haben.
Bis 2030 sollen alle Meeresböden mit einer Auflösung von mindestens 100 Metern kartiert sein.
Deutschland trägt einen nicht unerheblichen Teil zu diesem Ziel bei. Schon vor fünf Jahren haben die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das BMBF und die Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe beschlossen, dass, sobald die deutschen Forschungsschiffe Maria S. Merian, Meteor und Sonne in internationale Gewässer fahren, die Echolote eingeschaltet werden und die Vermessungsarbeit beginnt. „Deutschland war die erste Nation weltweit, die das für ihre ozeanischen Forschungsschiffe konsequent umgesetzt hat“, erklärt Anne-Cathrin Wölfl. Wenn sie selbst nicht gerade eine Vermessungsfahrt wie die Expedition MSM88/2 im Atlantik leitet, ist Wölfl dafür zuständig, dass die deutschen Forschungsschiffe so viel Meeresboden wie möglich kartieren. Finanziert von der neu gegründeten Deutschen Allianz Meeresforschung (DAM) koordiniert sie zusammen mit den Crews der Schiffe und der Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe in Hamburg Fahrpläne und Transitfahrten der Schiffe so, dass die freien Zeiten optimal für Kartierungen genutzt werden. „Wenn beispielsweise ein Forschungsschiff den Atlantik überquert, gibt es immer mehrere mögliche Routen. Ich kläre, wo noch Vermessungsdaten fehlen und versuche in Absprache mit dem Forschungsteam und der Schiffscrew an Bord die Fahrtstrecke so zu planen, dass wir die Lücken schließen“, erklärt Wölfl. Die Zusammenarbeit mit den Besatzungen sei dabei sehr gut. „Transitfahrten gelten als eintönig. Wenn es nebenbei etwas zu tun gibt, freut das auch die Techniker und Offiziere an Bord.“ Hinzu kommen ausgesprochene Vermessungsfahrten wie die Expeditionen MSM88/1 und MSM88/2.
Alle dabei erhobenen Daten werden so schnell wie möglich ans Data Center for Digital Bathymetry (DCDB) der Internationalen Hydrographischen Organisation (IHO) übermittelt, wo sie online verfügbar sind und damit auch dem Seabed 2030-Projekt zur Verfügung stehen. „Wir vermessen nicht für uns, sondern für die gesamte Wissenschaftsgemeinde und damit letztendlich für die Menschheit“, betont Professor Devey. Der Aufwand sei zwar hoch, aber schließlich gehe es darum unser aller Heimatplaneten besser kennenzulernen. „Im Meer warten fantastische Landschaften darauf, dass wir sie finden und kartieren. Es geht darum, unseren Heimatplaneten endlich komplett zu kennen“, sagt Devey und ergänzt: „Ich bin ein Entdecker – ein Beruf, der mich total begeistert ...“
Weitere Informationen:
Expedition MSM88/1: www.geomar.de/e354684
Expedition MSM88/2: www.geomar.de/e354685
Das Projekt Seabed 2030: https://seabed2030.gebco.net
Präzisere Karten zur Geburt eines zukünftigen Ozeans
Mit der Vermessung der Meeresböden bekommen wir auch Einblicke in die die Vergangenheit unseres Planeten. Wer zum Beispiel eine Ahnung davon bekommen möchte, wie der Atlantik vor rund 120 Millionen Jahren ausgesehen hat, muss keine Zeitreise unternehmen. Ein Ausflug in das knapp 2.300 Kilometer lange Rote Meer reicht. Es erstreckt sich entlang der Bruchzone zwischen der afrikanischen und der arabischen Erdplatte, die sich mit rund einem Zentimeter pro Jahr voneinander entfernen. In vielen Millionen Jahren wird es so vielleicht zu einem neuen Ozean heranwachsen. Seit 2011 waren Forscherinnen und Forscher aus Kiel auf deutschen und niederländischen Forschungsschiffen wiederholt im Roten Meer im Einsatz, um dort mehr über die Entstehungsgeschichte dieses Jung-Ozeans zu erfahren. Grundlegend dabei war und ist ebenfalls eine genaue Vermessung des Meeresbodens.
„Vom gesamten Roten Meer und speziell von den geologisch interessanten Gebieten gab es vor 2010 kaum hochauflösende Meeresbodenkarten“, erklärt der Meeresgeologe Dr. Nico Augustin vom GEOMAR. „Während der sechs Expeditionen seit 2011 haben wir etwa 33.000 Quadratkilometer Meeresboden mit einer Auflösung von 30 Metern, bis zu 10 Metern in den flacheren Gebieten, kartieren können“, berichtet er. Kollegen aus Italien und Saudi-Arabien trugen nochmals ca. 9.000 Quadratkilometer bei und die Kartierungen gehen weiter. Zusammen mit Gesteins- und Sedimentproben, die auf Grundlage dieser Karten genommen wurden, konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so nachweisen, dass sich seit mindestens 8 Millionen Jahren Ozeankruste im Roten Meer bildet. „Damit ist die Ozeankruste dort älter, als lange angenommen wurde und wir arbeiten derzeit an Hinweisen darauf, dass die Ozeanspreizung dort sogar noch älter ist“, sagt Dr. Augustin. Fast nebenbei konnten die beteiligten Teams auch dem in diesem Jahr außer Dienst gestellten Forschungsschiff POSEIDON ein Denkmal setzen. Ein bei der Kartierung erfasstes Becken (gelber Kreis), umzingelt von Salzgletschern und einem vulkanischen Rücken, trägt jetzt den Namen des Schiffes, das 2011 die Reihe Expeditionen startete.
Karte: Nico Augustin / GEOMAR