Was ist ein Meer?
Ein Ozeanograph definiert sein Arbeitsgebiet
von Dr. Johannes Karstensen, GEOMAR
Das GEOMAR steht in Kiel direkt an der Förde. Die Kieler Förde ist eine Ausbuchtung der Ostsee. Also leben und arbeiten die Wissenschaftler des GEOMAR am Meer! Klar – oder etwa doch nicht? Als Wissenschaftler kann man so eine Aussage nicht einfach akzeptieren und so wird daraus eine Frage: Lebe ich in Kiel am Meer? Um eine Antwort darauf zu finden suche ich nach einer Definition für den Begriff „Meer“. Am Computer sitzend schaue ich also erstmal bei Wikipedia nach. Was ich in der Online-Enzyklopädie lerne ist, dass die Ausführungen zum Thema „Meer“ weiterer Bearbeitung bedürfen, denn der Begriff „Meer“ unterscheidet sich nicht klar vom Begriff „Weltmeer“. Gut, gucke ich also unter “Weltmeer” – da steht, das sei das gleiche wie „Ozean“. Wie jetzt? Wenn Weltmeer und Meer sich nicht unterscheiden und Ozean ein anderes Wort für Weltmeer ist, folgt daraus: In Kiel lebt man am Ozean!
Die Ostee – ein Ozean?
Gefühlsmäßig widerspreche ich, zwischen dem Strand in Falkenstein und der französischen Atlantikküste gibt es doch Unterschiede. Um in der Sache weiter zu kommen, greife ich auf ein „Standardwerk“ der Meereskunde zurück: „Der Ozean“ von Dr. Otto Krümmel, Professor der Geographie an der Universität Kiel, erschienen im Jahre 1886. Gleich der erste Satz ist hilfreich: „... Die Wasserdecke der Erde, die wir Meer nennen, ist ein einheitliches Ganzes. Es gibt nur ein Weltmeer, das die Kontinente wie die Inseln umflutend rings die Erdoberfläche zusammenhängend umgibt. Wasserbecken, die durch Festlandteile vom Weltmeer losgelöst sind, gelten nicht als Zubehör des Meeres, auch wenn sie salziges Wasser enthalten, oder einst in vergangenen Epochen der Erdgeschichte wirklich Teile des Ozeans gewesen sein sollten...“.
Die Ostsee ist nicht von Kontinenten umgeben, folglich ist sie auch kein Weltmeer, also auch kein Ozean, also auch kein Meer. Daraus folgt: In Kiel lebt man nicht am Meer. Das kann doch gar nicht sein – immerhin sehe ich doch die Wasserfläche. Die Ostsee wird immerhin als „Nebenmeer“ oder auch „Intrakontinentales Mittelmeer“ eingestuft. Da bedeutet, sie ist durch eine Meerenge mit einem Ozean verbunden und gehört zu einem einzigen Kontinent. Die Ostsee ist zudem das größte „Brackwassermeer“ der Welt. Klingt ein wenig modrig, hat aber gar nichts mit modrig zu tun. „Brack“ ist ein Norddeutscher Begriff für einen durch einen Deichbruch entstandenen See. Das ursprünglich salzige Wasser wird durch Niederschläge langsam zu Süßwasser. Bei der heutigen Ostsee ist dieser „Deichbruch“ das gelegentliche Einströmen von salzigem Wasser aus der Nordsee.
Der Ozean – unvorstellbare Weiten
Zurück zum „großen Ganzen“, zum Weltmeer, zum Ozean. Das Weltmeer umgibt heutzutage mehrere Kontinente deshalb gibt es auch mehrere Ozeane. Offiziell gibt es den Atlantischen, Pazifischen, Indischen und den Arktischen Ozean. Für diese Namensgebung ist die „Internationale Hydrographische Organisation“ mit Sitz in Monaco zuständig. Wissenschaftler unterscheiden zudem noch den Südlichen Ozean, der das einzigartige Meeresgebiet um die Antarktis bezeichnet. Wie auch immer aufgeteilt und benannt, die Ozeane bedecken mehr als zwei Drittel der Erdoberfläche. An wenigen Stellen sind sie tiefer als 10.000 Meter und im Mittel „nur“ 3.500 Meter tief. Daraus ergibt sich ein gewisse Missverhältnis zwischen Breite und Tiefe. Würde man die Ozeanfläche im Seitenverhältnis eines DIN-A4 Papiers aufteilen so wäre das „Weltmeer Blatt“ weniger als halb so dick wie ein Blatt Standard-Druckerpapier. Das ändert nichts daran, dass das Ozeaninnere für Menschen nur schwer erreichbar ist. Die unvorstellbare Größe, der hohe Druck in der Tiefe, Korrosion des Salzwassers und nicht zuletzt das manchmal schlechte Wetter machen Ozeanforschung zu einer echten Herausforderung, der nur mit High-Tech-Lösungen begegnet werden kann: Neben hochmodernen Forschungsschiffen werden ferngelenkten Tauchboote eingesetzt, die beispielsweise den Meeresboden genau vermessen. Stahlseile werden auf dem Meeresboden verankert und von mit Luft gefüllten Glaskugeln zur Meeresoberfläche hin aufgerichtet. An den Seilen werden für Monate oder Jahre Instrumente montiert, die Daten über Strömungen, Salzgehalte, Wassertemperaturen oder die Chemische und Biologische Zusammensetzung des Wassers sammeln.
Meeresforschung – international und hoch technologisiert
Die enormen Dimensionen der Ozeane verlangen von den Ländern, die Meeresforschung betreiben, ein enge Zusammenarbeit, um dem Meer seine Geheimnisse zu entlocken. Eine Paradebeispiel für so ein „Miteinander“ wurde in den vergangenen 10 Jahren aufgebaut: Mehr als 3000 frei treibende Mess-Sonden wurden von verschiedenen Nationen in die Ozeane entlassen. Diese „Drifter“ messen Temperatur- und Salzgehalte in den oberen 2000 Metern der Ozeane und senden die Daten per Satellit in die Labore. So kann der aktuelle „Zustand“ der Meere kontrolliert werden. Aber nicht nur das „Jetzt“ ist von Interesse, es lassen sich auch bedeutend bessere Vorhersagen über die Zukunft des Meeres errechnen, wenn man das „Jetzt“ kennt. Das ist wichtig, denn viele Vorgänge im und über dem Meer haben direkte Verbindungen zu unserem Leben an Land: Sei es die Wettervorhersage, die sich ohne ein Wissen über die Verteilung der Temperatur an der Meeresoberfläche rapide verschlechtern würde; sei es die Messung von seismischen Schwingungen am Meeresboden, die Hinweise für bevorstehende Erdbeben geben können; sei es die Bestimmung der Größe und Vorkommen von Fischen die für die Versorgung der Welt mit Nahrungsmitteln. All das ist für uns „Landratten“ wichtig zu wissen. Das gilt übrigens für den Weltozean genauso wie für unsere Ostsee. Ob „Nebenmeer“ oder „Meer“ spielt da keine Rolle. Wenn jemand also zu mir sagt: In Kiel lebt man am Meer! sag ich immer noch „Ja, super!“ - auch wenn das nicht ganz korrekt ist.
Johannes Karstensen ist Wissenschaftler am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel im Forschungsbereich Ozeanzirkulation und Klima Dynamik. Nach dem Studium der Physikalischen Ozeanographie und Promotion in Hamburg war er in Dänemark, den USA und Chile tätig. Seit dem Jahre 2002 arbeitet er in Kiel in der Abteilung Physikalische Ozeanographie.